Verdutzt legte Tristan Korn den Hörer auf. In der Troposphäre räusperte sich lautstark der Donnergott. Shlomo Jakobs alias „Old Knatterbüx“ verschluckte sich prompt an seinem Kaffee, als sein kreidebleicher Mitbewohner schattengleich in die Küche huschte und hustete aus voller Kehle. Um dem Sound seines Hustenanfalles eine weitere Klangfarbe beizumischen, hob er seinen Hintern leicht an und ließ krachend einen fahren. „Entschuldigung, der Kaffee regt meine Verdauung ungemein an! Aber was ist denn los? Hast du ein Gespenst gesehen?“ Tristan ließ sich auf einen der abgenutzten Küchenstühle fallen und hielt sich demonstrativ die Nase zu. „Meine Güte, hat es draußen gedonnert oder ist gerade der Große Geist aus deiner Hose geraucht?“ Gedankenverloren goss sich Tristan den letzten Schluck Kaffee aus der Bodum-Kanne in einen leidlich sauberen Becher. Shlomo, der sich auf eine weitere Tasse Kaffee gefreut hatte, sah diesbezüglich in die Röhre. Als kleines Trostpflaster könnte er jetzt immerhin die Zukunft aus dem Kaffeesatz lesen. „Nein, nicht gesehen, Shlomo, dafür aber gehört. Vor ein paar Tagen habe ich eine Dose Lösungsmittel im Baumarkt gekauft. Der geheimnisvolle Anrufer fragte mich nun, warum ich das Zeug gekauft habe!“ Ein solches Aufheben wegen einer Dose Lösungsmittel betrachtete Shlomo als obrigkeitliche Willkür in Reinkultur. Haben die nichts Besseres zu tun, als unbescholtene Bürger zu kujonieren? „Dies ist noch nicht alles, Old Knatterbüx! Wenn ich nicht binnen einer Woche nachweisen kann, dass ich mit dem Lösungsmittel nichts Illegales vorhabe, wird die Bank meine Geldkarte sperren. Dann werde ich vollständig auf dem Trockenen liegen und nichts mehr einkaufen können!“ „Das wird ja immer besser! Wie willst du den Herrschaften nachweisen, dass du das Lösungsmittel in lauterer Absicht erworben hast?“ „Indem ich der Bank schriftlich mitteile, dass ich das Lösemittel zum Abbeizen und Aufhellen der Stühle und Tische im Nachbarschaftstreff benötige. Und das ist nicht alles!“ Eine Woche vorher hatte Unglücksrabe Tristan einen Kanister Wasserstoffperoxid im selben Baumarkt erworben, ein Umstand, welcher letzten Endes das Interesse der Bank geweckt hatte. Deckte sich hier ein sinistere Pläne verfolgender Amateur-Bombenbastler mit den nötigen Chemikalien ein, um sich einen preisgünstigen Do-it-yourself-Sprengkörper zu basteln? Gedankenverloren fuhr sich Shlomo mit den Fingern durch sein ungekämmtes Haar und inspizierte ratlos die mit Brotkrümeln übersäte Tischplatte. Nach einer Weile hob er ein wenig seinen Hintern an und ließ zischend einen fahren. „Mann, ich weiß gar nicht, ob es drinnen oder draußen donnert! Aber wenn du so weiter machst, wirst du dir noch ein Loch in die Hose brennen“, tadelte Tristan seinen Mitbewohner. Die Rüge prallte an Shlomo wie ein Fetttropfen an einer teflonbeschichteten Bratpfanne ab. Tristan hatte die Nase voll von Shlomos Konzerteinlagen und verdrückte sich in sein Zimmer. Auf dem ungemachten Bett liegend sinnierte er über sein vermurkstes Leben. Er wähnte sich in einer schlingernden Raumkapsel im erdnahen Orbit nach Brennschluss der Triebwerke. In einem labilen Gleichgewicht befindliche Flieh- und Schwerkraft ließen ihn stoisch seine Bahnen ziehen, doch die Atmosphäre bremste seine Fluggeschwindigkeit sukzessive ab; in absehbarer Zukunft würde er in bester Ikarus-Manier vom Himmel fallen. Eigentlich war sein Sinkflug bereits in vollem Gange, da er seit langem schon arbeitslos und gesundheitlich angeschlagen war. Sein Lebensschiff hatte reichlich Schlagseite erlitten, nur zu oft kam er sich wie ein müder Abklatsch seiner selbst vor; wie viele Träume und Wünsche sollte er noch über Bord werfen, um mit Ach und Krach die Fährnisse des Lebens umschiffen zu können?
Aus dem Roman "Turn me on, dead man" (Brighton Verlag 2020)
Meine Hände zitterten wie Zedernblätter im Sturmhauch der Bora, kurz bevor ich das Bewusstsein verlor. Passanten beugten sich schockiert über mich, den am Boden liegenden Totgeweihten. Der Unglückswagen hatte im toten Winkel gelauert, ein wilder Stier, der mich auf die Hörner nahm, frontaler Aufprall mit Kiss-me-goodbye der Motorhaube und nachfolgendem Zwei-Meter-Freiflug nebst Bruchlandung auf dem Asphalt; zirkusreif, aber leider mit erheblichen Verletzungen einhergehend. Hat jetzt mein letztes Stündlein geschlagen? Reitet mir Jesus in einem mit Palmblättern gepflasterten Tunnel auf einem Esel entgegen und heißt mich im Kristallhimmel, dem Vorzimmer zum Empyreum, willkommen? Es war nicht das Antlitz des Heilands, welches sich meinem trüben Blick näherte, sondern das sorgenvolle Gesicht eines Notarztes, der zu retten versuchte, was noch zu retten ist. Selbst ein medizinischer Laie wie ich wusste in diesem Moment, dass es mit einem popeligen Aspirin nicht getan wäre. Dunkelheit umgab mich, kein berittener Erlöser kam mir entgegen, kein Licht am Ende des Tunnels verhieß Trost und Hoffnung, nachtschwarze Dunkelheit umspülte meine Augen wie ein altes böses Meer. Die Rettungssanitäter waren ein eingespieltes Team, routiniert fühlten sie meinen Puls, prüften meine Atmung und leuchteten mir mit einer Taschenlampe in die linke Pupille, die keine Reaktion zeigte, was auf ein schweres Schädel-Hirn-Trauma hindeutete. Mittels eines eilig gelegten Tropfs wurden mir kreislaufstabilisierende Medikamente in die Blutbahn geträufelt. Vorsichtig wie ein rohes Ei legten mich die Sanitäter mit einer Schaufeltrage auf die Vakuummatratze, hievten diese ins Innere des Rettungswagens und fuhren mit wehenden Blaulichtfahnen zum nächsten Krankenhaus. Die Röntgenaufnahmen brachten nichts Erfreuliches zu Tage, Schädelhirntrauma dritten Grades mit Gehirnprellung sowie Brüche des linken Unterarmes und des rechten Schienenbeins als Dreingabe. Des Lebens Mitte hatte ich erreicht, nur um von einem Panther angegriffen zu werden, oder war es ein Jaguar? Solch teure Wagen sind in meiner Nachbarschaft eher spärlich gesät, es wird eher ein Panda oder Škoda gewesen sein, der mich über den Haufen fuhr. Statt an meinem Arbeitsplatz, der Schadensregulierung einer Versicherung zu sitzen, lag ich auf der Intensivstation. Die Notärzte waren hinsichtlich meines kritischen Zustands alles andere als zuversichtlich und befürchteten, dass ich dauerhafte neurologische Schädigungen davontrüge, sollte ich den Schlamassel überleben. Das Koma war ein lichtloses Meer der Ruhe auf der dunklen Seite des Mondes, dann und wann leuchteten im Traum Sternschnuppen der Erinnerungen auf, die ebenso schnell wieder verlöschten. Die Monitore der Apparaturen an meinem Bett strahlten den matten Schimmer einer fernen Galaxie in das Zwielicht der nächtlichen Intensivstation. Von Zeit zu Zeit erschien Nachtschwester Lara Heidegger an meinem Bett, um die Vitalparameter zu überprüfen. Überaus besorgt betrachtete sie den EKG-Monitor, mein Herz schlug sehr schwach, Puls und Blutdruck waren ein Schatten ihrer selbst und die im EEG dargestellten Hirnströme verhießen nichts Gutes. Routiniert überprüfte sie die Kanülen der verschiedenen 28 Medikamentenpumpen, die mir in regelmäßigen Abständen kreislaufstabilisierende Präparate intravenös verabreichten. Der Schichtdienst setzte ihr von Jahr zu Jahr schwerer zu, insbesondere die ewigen Wechselschichten laugten sie zunehmend mehr aus; ihr Liebesleben war ein einziges Desaster. Das einzige, was sie an solchen Tagen zu trösten vermochte, war ein Becher Chai-Tee sowie ein angeregter Plausch mit ihren Freundinnen. Sie fühlte sich in diesen Momenten geborgen und voll ins Kommunikationsnetz integriert. Viele Stunden später spülte mich eine Flutwelle synaptischer Reizübertragung ins Bewusstsein zurück, für einen wahnwitzigen Moment erwachte ich aus dem Todesschlaf und riss die Augen auf. Vor meinem Bett standen Krankenschwester Lara mit akkurat gezupften Augenbrauen sowie ein dicklicher kleiner Mann, der mich irgendwie an einen Fernsehkomiker erinnerte. Unter seinem eilig übergeworfenen Schutzkittel blitzte keck ein froschgrünes Hawaiihemd hervor. Die beiden starrten mich wie ein Weltwunder an, ich musterte mit beinahe übernatürlicher Sehschärfe jede Pore und jedes Härchen in ihren Gesichtern. Mein Blick schweifte durch den Raum und registrierte jedes Detail der mich umgebenden Menschen und Dinge. Lara fragte mich, ob alles in Ordnung sei; ich versuchte ihr zu antworten, brachte aber keinen Ton über meine Lippen. Kaum hatte sie mit aufgeregter Stimme den diensthabenden Stationsarzt herbeigerufen, fiel ich ins Koma zurück. Der Sand im Stundenglas meines Lebens rauschte wie ein Sturzbach durch die Enge des Glaskolbens, ich sah mich bereits im Büßerhemd an die Himmelspforte klopfen. In einer plötzlich aufblitzenden Traumsequenz stand Nachtschwester Lara statuenhaft vor meinem Bett und schaute mich entrückt lächelnd an. Das Traumgebilde erinnerte an ein Gemälde von Grant Wood, Lara Heidegger in adretter Schwesterntracht mit Heugabel in der rechten Hand unter einem mit sahnigen Schäfchenwolken garnierten schokoladefarbenen Himmel. „Ich werde dich pflegen, so gut ich kann. Doch Wohl und Wehe hängt sehr von diesen Maschinen ab, an die du angeschlossen bist.“ „In Ordnung, Schwester Lara, ich werde mein Bestes geben und weiterhin langmütig wie ein Panther hinter den tausend Stäben des Käfigs der Bewusstlosigkeit ausharren.“ „Du wirst schon bald die Bekanntschaft einer hochgestellten Persönlichkeit machen. Sei höflich zu ihr, und höre genau zu, was sie dir sagt.“ „Tatsächlich? Wer mag das sein, der mich an diesem Ort aufsuchen will? Jemand von der Rentenkasse, um mit mir meine Invalidenrente zu besprechen?“ Lara lächelte entrückt und neigte sympathieheischend den Kopf zur Seite. Einen Herzschlag später löste sich mein Traumgebilde in seine monochromatischen Spektralfarben auf, weißgeschürzte Krankenschwester und braun gepinselter Horizont zerflossen ineinander, das mono- und polychromatische Licht des Farbraumes strudelte um einen Punkt unbestimmter Ausdehnung herum, schließlich floss es durch einen wurmlochartigen Abfluss aus meinem Bewusstsein heraus. Vielleicht werde ich nicht in den Himmel, sondern in die Hölle kommen! Und diese Hölle wird das Büro sein, in dem ich arbeite. Für alle Zeiten in diesen Raum eingepfercht müssen meine Kollegen und ich sämtliche Schäden des Universums regulieren. Tagein, tagaus werden uns die Versicherungsfälle ins Büro flattern und die Mühsal wird ewig sein. Tiefschwarze Nacht breitete sich im Land aus, als die Sonne achtzehn Grad unter dem Horizont stand und die astronomische Dämmerung beendete.
Aus dem Roman "Mondphasen des Kapitalismus" (Brighton Verlag 2018)
Lassen Sie sich nicht den Trailer zu diesem Werk entgehen!
Jetzt schlägt´s dreizehn! Der Mercedes sauste wie ein geölter Blitz mit hundert Sachen in den Tunnel hinein. Die weiß gestrichenen rechteckigen Mittelpfeiler rasten wie eine aufgescheuchte Antilopenherde am Wagenfenster vorbei. Unser Fahrzeug geriet ins Schlingern und touchierte scheppernd die Tunnelwand. Der Fahrer versuchte verzweifelt, das Auto in der Fahrspur zu halten, doch seine Bemühungen waren vergebens. Er verlor die Kontrolle über den Wagen, der wie eine Billardkugel von der Wand abprallte und geradewegs auf einen der Mittelpfeiler zuschoss. Die Zeit schien plötzlich stillzustehen. Der Pfeiler näherte sich in Zeitlupe und ich konnte in aller Ruhe die von ihm abblätternde Farbe begutachten. Die Straßenmeisterei hatte ihr Jahresbudget anscheinend bereits ausgeschöpft und würde sich erst im nächsten Jahr einen neuen Eimer Farbe leisten können. Leise flüsterte ich den Namen meines Verlobten, der neben mir auf dem Rücksitz saß, doch mein schwaches Wispern wurde übertönt von den entsetzten Schreien des Fahrers und des Leibwächters. Aus den Fugen geratene Fliehkräfte schüttelten den Mercedes erbarmungslos durch; ich fühlte mich wie eine Cocktailkirsche in einem überdimensionalen Shaker. Mir lag noch der Geschmack von gegrillten Avocados mit Bio-Garnelen auf der Zunge, das Abendessen im Hotel war vorzüglich gewesen. Eben noch regnete es rote Rosen aus einem Himmel voller Geigen, nun saßen uns geifernde Höllenhunde im Nacken, die der Teufel von der Leine gelassen hatte. Unterdessen kam der Pfeiler immer näher. Ich war mir sicher, dass ich meine Kinder nie mehr wiedersehen würde. Verzweifelt tastete ich nach dem Mobiltelefon in meiner Handtasche; nichts wünschte ich mir sehnlicher, als ein letztes Mal mit ihnen zu sprechen. Ich würde sie darum bitten, stets ihre Hausaufgaben zu erledigen und bei Gelegenheit die Straßenmeisterei der Stadt des Lichts darauf aufmerksam zu machen, dass diesem sträflich vernachlässigten Mittelpfeiler bei Gelegenheit ein frischer Anstrich guttun würde. Der Gedanke daran, dass künftig mein Ex-Mann die alleinige Verantwortung für meine Jungs tragen würde, ließ mich auf dem Lederrücksitz erschaudern.
Aus der Kurzgeschichte "Tunnelfahrt" (erschienen in der Anthologie "Vampire in Brighton Castle", Brighton Verlag 2019)
Stocksteif lag Jennifer Lahore im Krankenbett und fürchtete, ihr Herz spränge ihr zur Brust hinaus. In der Nacht zuvor fand sie keinen Schlaf und lauschte stattdessen im fahlen Schein des Vollmondes dem Ticken ihrer Armbanduhr. Stetig floss mechanische Energie aus dem Federhaus über das Räderwerk bis ins Spiralwerk der Unruh, deren regelmäßige Schwingungen den Gang des Minuten- und Sekundenrads mit Sonnenstand und Lauf der Gestirne in Übereinstimmung brachte. Krampfhaft versuchte sie, ihren Herzschlag mit dem gleichmäßigen Ticken der Unruh zu synchronisieren, doch ihr banges Herz schlug und trommelte, als säße ein zu Karzerhaft verurteilter Oskar Matzerath in ihm. Schweigend schoben zwei Krankenpfleger das Stationsbett durch den Korridor zum OP-Saal, in dem sie ein ungewisses Schicksal erwartete. Der Geruch von Desinfektionsmitteln und abgestandener Luft stieg ihr in die Nase und ließ ihren Magen rebellieren. Starr blickte sie zur Decke; der kalte Lichtschein der Neonröhren kam Jenny wie die düster strahlenden Auren der apokalyptischen Reiter vor, die über ihren Kopf hinweg gen Himmel und Hölle ritten. Als der letzte Reiter an ihr vorbeigezogen war, bogen die Krankenpfleger nach rechts ab und rollten Jennifer in die OP-Schleuse. Vorsichtig betteten die Pfleger ihre angsterfüllte Patientin auf den OP-Tisch um, deckten sie zu und legten einen Katheter für das Narkosemittel. Die Krankenschwester hätte mir ruhig stärkere Scheißegal-Pillen verabreichen können, dachte Jenny verärgert, ich mach mir vor Aufregung bald in die Hose. Der Anästhesist trat an den OP-Tisch, tätschelte zärtlich ihre Wange und öffnete den Katheter; augenblicklich begann eine farblose Flüssigkeit in ihre Blutbahn zu tröpfeln. „Entspannen Sie sich, Miss Lahore, alles wird gut! Gleich werden Sie tief und fest einschlafen und wenn Sie dann aufwachen, werden Sie sich wie ein neuer Mensch fühlen.“, wisperte der Arzt leise in ihr Ohr. Auf jeden Fall - in dieser Welt oder in der anderen Welt, erwiderte Jenny fatalistisch in Gedanken. Sie wunderte sich, woher wohl der braune Fleck auf dem OP-Kittel des Narkosearztes stammte. Jenny wollte den Doktor auf den Fleck ansprechen, kam aber nicht mehr dazu, da schlagartig die Wirkung des Narkotikums einsetzte und ihr Bewusstsein schnurstracks ins temporäre Nirwana beförderte. Game over.
Auszug aus meiner Erzählung "Cyborg" (erschienen in der Anthologie "Nachts sieht man keinen Regenbogen", Brighton Verlag 2022)
Mit leisem Quietschen öffnete sich die Tür des Leichenschauhauses. Vorsichtig streckte Harry Sander, seines Zeichens Innensenator der Hansestadt, den Kopf hinaus. Nachdem er sich nervös nach links und rechts schauend vergewissert hatte, dass die Luft rein war, trat er vorsichtig zur Tür hinaus. Sein Sekretär Jakob Fendrick folgte ihm auf dem Fuße und schloss leise die Tür hinter sich zu. Er nahm einen tiefen Atemzug; die kühle Nachtluft weckte seine Lebensgeister und spülte den Geruch des Todes aus seinen Lungenflügeln.
„Würden Sie mir bitte ein Erfrischungstuch reichen, Herr Fendrick?“, sprach Sander mit brüchiger Stimme. Augenblicklich griff der Sekretär in seine Aktentasche, kramte ein Erfrischungstuch sowie einen Pfefferminzbonbon hervor und überreichte diese dem Senator.
„Vielen Dank. So schön die Sache an sich ist, der verdorbene Nachgeschmack kann einem im Nachhinein das Vergnügen vergällen.“
Fendrick dreht sich der Magen um, als er die Worte seines Chefs vernahm. Sander tupfte sich mit dem Tuch die Lippen ab und lutschte geräuschvoll den Bonbon. Fendrick juckte es in den Fingern, die derangiert wirkende Kleidung seines Dienstherrn zu richten, doch wohlweislich hielt er sich zurück. Wenigsten das Hemd hätte er sich vernünftig in die schief sitzende Hose stecken können, dachte Fendrick erbost: Ein Senator mit Maurerdekolleté ist der stolzen Hansestadt mehr als unwürdig! Sander wandte seinem Assistenten den Rücken zu und wurde des grimmigen Blickes, den Fendrick ihm zuwarf, nicht gewahr. Er wischte sich gründlich Lippen und Gesicht mit dem Tuch ab, so als stünde der nächste Frühjahrsputz vor der Tür. Fendrick wünschte sich, dass es Sander endlich gelänge, das sichelförmige Muttermal wegzuwischen, doch nach wie vor prangte es gut sichtbar auf seiner rechten Wange und sprang seinem Gegenüber förmlich ins Auge. Als der Senator mit seiner Reinigungsprozedur fertig war, drehte er sich um und sah Fendrick mit stechendem Blick aus seinen eng zusammenliegenden Augen an.
„Was stehen Sie hier so untätig herum? Fahren Sie den Wagen vor, ich möchte mich zuhause erstmal ein Stündchen unter die Dusche stellen, um diesen Geruch wieder loszuwerden!“
„Jawohl, Herr Senator!“, antwortete Fendrick gehorsam und setzte sich in Bewegung. Auf dem Weg dorthin wiederholte er mantraartig, dass seine Zeit noch käme und alle Kröten, die er bis dahin noch gezwungen war zu schlucken, mehr als wettmachen würde. Gedankenverloren trottete er im fahlen Licht des Vollmondes zurück zum Parkplatz und überlegte, ob es ihm heute wohl gelänge, die abscheulichen Bilder aus seinem Kopf zu bekommen, um wenigstens etwas Schlaf zu finden. Glücklicherweise wartete zuhause ein Flasche Single Malt auf ihn; der Whiskey war seit längerem seine zuverlässigste Einschlafhilfe.
Schweigend fuhren die beiden Männer die Hauptstraße entlang. Fendrick machte einen gedanklichen Knoten in sein Taschentuch, nächstes Mal unbedingt einen neuen Duftbaum an den Rückspiegel zu hängen. Der Leichengeruch, den Sander vom Rücksitz verströmte, war ja nicht zum Aushalten.
„Lassen Sie mich an der Ecke dort raus, Fendrick. Ich werde den restlichen Weg zu Fuß gehen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Wir sehen uns morgen.“
Fendrick fuhr den Wagen rechts heran; ohne ein weiteres Wort zu verlieren stieg der Senator aus dem Auto und verschwand mit hochgezogenem Kragen hinter der nächsten Ecke. Geistesabwesend starrte Fendrick aus dem Wagen auf die in tintenblaue Dunkelheit getauchten Jugendstilfassaden aufwändig sanierter Altbauten, deren Bewohner sich gerade verzweifelt aus einem Spinnennetz unausgegorener Traumgesichte zu befreien versuchten. Obwohl er seinem Chef bei der Befriedigung seiner abseitigen Gelüste stets behilflich war, hatte Sander sich bislang nicht gerade erkenntlich gezeigt. Fendrick fühlte einmal mehr, wie sich die Wurzel des Hasses immer weiter im Mutterboden seines Herzens ausbreitete und positive Gefühle wie Liebe, Empathie und Loyalität verdrängte. Seufzend startete er den Motor; eines nicht allzu fernen Tages würde er sich rächen, das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Doch heute stand ihm nur noch eine Herausforderung bevor, nämlich eine Mütze voll Schlaf zu finden.
Auszug aus meiner Story "Späte Rache" (erschienen in der Anthologie "Geschichten aus der Gruft", Brighton Verlag 2022)